Bitkom-Podcast: Ralf Wintergerst trifft Heike Riel
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Ralf Wintergerst trifft Heike Riel

Der Podcast „Ralf Wintergerst trifft Dr. Heike Riel" zum Nachlesen

Dr. Ralf Wintergerst:
Liebe Frau Dr. Riel, ich freue mich auf unser Gespräch, denn wir haben einige spannende Themen zu besprechen. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich heute Zeit nehmen.

Dr. Heike Riel:
Vielen Dank, Herr Wintergerst, dass ich dabei sein darf. Ich freue mich sehr auf das Gespräch.

Dr. Ralf Wintergerst:
Ich fange mal mit einer persönlichen Frage an. Sie leiten als IBM Fellow für Quantenforschung viele Forschungsvorhaben. Auf der anderen Seite sind sie designierte Präsidentin der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, kurz DPG.
Ihre berufliche Reise haben sie aber nicht in der Wissenschaft begonnen, sondern mit einer Schreinerlehre. Wie kam es dazu – und wie sind Sie schließlich in der Wissenschaft gelandet?

Dr. Heike Riel:
Ich habe einen anderen Lebensweg als viele, da ich mit einer Schreinerlehre gestartet bin. Mathematik hat mich immer begeistert, deshalb habe ich später Physik studiert. Ich bin nicht direkt aufs Gymnasium gegangen. Da gab es verschiedene Gründe, manchmal passt die Symbiose zwischen Lehrer und Schüler nicht gut. Ich war auf Haupt-, dann Realschule und habe dort den technischen Zweig gewählt. Schon das war nicht typisch, aber ich fand Mathematik und Physik spannend.
Gleichzeitig bin ich in einer kleineren Schreinerei aufgewachsen, wo alle in der Familie mithelfen. Ich habe Spaß an dieser Arbeit mit den Händen, daran Dinge zu gestalten, die einen langen Mehrwert haben. Danach habe ich das Abitur nachgeholt, weil ich sehr gut in der Schule war und studieren wollte. Zur Wahl standen auch Holzingenieurwesen oder Innenarchitektur. Mit dem Abitur stand mir alles offen, und ich bin zu dem zurückgekehrt, was mir am meisten Spaß macht: Mathematik und Physik. Warum Physik und nicht Mathematik? Ich wollte nicht nur am Rechner arbeiten, sondern auch im Labor. Diese Kombination von Mathematik und Anwendung in der Physik fand ich spannend.

Dr. Ralf Wintergerst:
Das zeigt, dass es unterschiedliche Wege zum Ziel gibt. Vielleicht ist Ihr Weg auch ein Vorbild für jüngere Zuhörer: Manchmal führen Umwege nach Rom. Aber schön, dass Sie da angekommen sind, wo Sie sind. Sie übernehmen demnächst ein neues Amt: Sie werden Präsidentin der DPG, einer der größten physikalischen Gesellschaften der Welt mit über 50.000 Mitgliedern. Sie versuchen in der DPG Grundlagenforschung und Technologie zusammenbringen – für Deutschland zentral, denn an dieser Schnittstelle entstehen neue Wirtschaft, Produkte und Möglichkeiten. Welche Schwerpunkte und Ziele haben Sie für neues Amt

Dr. Heike Riel:
Das Amt rückt näher. Ich arbeite bereits eng mit dem aktuellen Präsidenten, Herrn Richter, zusammen. Mir liegt die Brücke von der Grundlagenforschung über die angewandte Forschung bis in Produkte und wirtschaftlichen Mehrwert am Herzen. Das konnte ich bei IBM umsetzen. Bei vielen Physikern, die nur den akademischen Weg kennen, ist diese Anwendungsperspektive weniger präsent. Ich möchte vermitteln, wie Grundlagenforschung in Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft überführt werden kann – mit Beispielen und Rollenvorbildern. Inhaltlich haben wir viele Themen, in denen Deutschland in der Grundlagenforschung stark ist – etwa Künstliche Intelligenz und Quantencomputing. Diese Technologien müssen schneller in die Anwendung für Europa und die Gesellschaft kommen.

Dr. Ralf Wintergerst:
Lassen Sie uns auf Quantencomputing und KI blicken. In Ihrem Leopoldina-Profil heißt es: „Heike Riel entwickelt Quantencomputer mit dem Ziel, sie für Anwendungen in Industrie, Wissenschaft und Wirtschaft einfach nutzbar zu machen.“ Im Kern ist das die Zusammenfassung dessen, was Sie gerade sagten. Deutschland investiert bereits in Programme für Quantentechnologien, um ein führender Standort zu werden. Reicht das aus – und wo stehen wir im weltweiten Vergleich?

Dr. Heike Riel:
Es gibt viel zu tun. Europa feiert 100 Jahre Quantenphysik, es ist viel erforscht worden. Aber vieles wurde hier zwar entdeckt, dann aber nicht in Umsetzung überführt – denken Sie an Halbleiter, Mikrochips, Laser, LEDs. Wir sind stark, haben es aber nicht geschafft, daraus große Firmen neu aufzubauen. Jetzt entstehen neue Felder wie Quantencomputing und Quantensensorik, aber auch KI. Aus den Versäumnissen der Vergangenheit sollten wir lernen und es in den nächsten hundert Jahren besser machen.

Dr. Ralf Wintergerst:
Was fehlt uns neben Investitionen, um vorn mitzuspielen? Sie haben viel Erfahrung in den USA gesammelt. Was macht man dort anders und erfolgreicher?

Dr. Heike Riel:
Das sind verschiedene Dinge. In den USA sind die Investitionen deutlich größer. Viele finanzielle Mittel kommen aus der Privatwirtschaft, nicht nur vom Staat oder Europa. Warum ist das so? Ein wesentlicher Unterschied ist Kultur und Struktur: Man sucht Chancen und Kooperationen, verhandelt Deals, hat mehr Risikobereitschaft, um auch mehr zu erwirtschaften.
Das heißt, dass man auch mal nicht erfolgreich ist. „Fail fast“ bedeutet in den USA: schnell lernen und besser werden. Das sollten wir in Deutschland stärker fördern – inklusive Rollenmodellen, die Rückschläge hatten und dann erfolgreich wurden.
Ein Beispiel: Ich habe vorgestern mit einem Kollegen gesprochen, der in China als ehemaliger Professor ein Institut betreut. Dort in Shenzhen werden neben Schauspielern und Sportlern auch Wissenschaftler und Manager als Vorbilder sichtbar gemacht. Wir müssen Struktur, Kultur und Unternehmertum weiter fördern.

Dr. Ralf Wintergerst:
Da nennen Sie einen wichtigen Punkt! Geld ist nicht alles – wir müssen uns erneuern. Kultureller Wandel ist schwierig, aber wir können alle daran arbeiten.

Dr. Heike Riel:
Unsere frühere IBM-CEO Ginni Rometty sagte: „Growth doesn’t come with comfort.“

Dr. Ralf Wintergerst:
Ein Kollege bei G+D, der vorher auch bei IBM war, zitiert oft: Wachstum geht mit Unbehagen einher, sonst ist das Risiko zu gering.

Dr. Heike Riel:
Dafür braucht es neben Mut auch Ambition und Leidenschaft. Dann fühlt es sich nicht wie Arbeit an, sondern wie etwas, das man gern tut. Diese Passion sollten wir stärker in die Bevölkerung bringen.

Dr. Ralf Wintergerst:
Sie sagen das mit Freude und spürbarer Leidenschaft.

Dr. Heike Riel:
Das ist eine meiner Charaktereigenschaften: Herausforderungen annehmen und dabei lernen – das hat mir immer Freude gemacht.

Dr. Ralf Wintergerst:
Eine andere Perspektive sieht Technologie als politisches Instrument – gerade mit den momentanen geopolitischen Spannungen. Digitale Souveränität steht in Deutschland weit oben auf der Agenda. Wie ist das mit dem Quantencomputing? Ist das eine Möglichkeit, nicht nur unsere Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch Souveränität zu erhöhen?

Dr. Heike Riel:
Natürlich. Wir müssen technologisch erfolgreich sein und kluge Köpfe für Wissenschaft, Technik, Anwendungen und Unternehmertum gewinnen. Souveränität heißt aber nicht Abschottung. In Europa gibt es starke Startups, die wir fördern müssen. Gleichzeitig sollten Unternehmen Zugang zu den besten verfügbaren Technologien haben, um nicht in Rückstand zu geraten. Wenn es anderswo bessere Technologie gibt, sollten wir sie nutzen, bis eigene Lösungen verfügbar sind. Da müssen wir die richtige Balance finden und holistisch denken.

Dr. Ralf Wintergerst:
Wie weit ist das Quantencomputing insgesamt? Wann erwarten Sie stabile Anwendungen – und in welchen Szenarien? Klassisches High-Performance-Computing wird immer besser und verkürzt die Distanz zum Quantencomputing.

Dr. Heike Riel:
Quantencomputer sind keine „besseren“ klassischen Rechner, sondern basieren auf Quantenphysik. Ihre Leistungsfähigkeit skaliert exponentiell, bei klassischen Rechnern hingegen linear. Ein Beispiel: 30 Qubits kann man noch auf einem Laptop simulieren, 50 Qubits mit einem HPC-Rechner; 100 Qubits sind klassisch praktisch nicht mehr simulierbar. Es wird keinen abrupten Übergang geben, sondern einen kontinuierlichen.
Die Entwicklung der letzten zehn Jahre war rasant; Anwendungen rücken näher. Wir erwarten im nächsten Jahr einen „Quantenvorteil“, also dass wir ein Problem schneller, energieärmer oder überhaupt lösen zu können, idealerweise mit wirtschaftlichem Mehrwert. Bei Hardware und Algorithmen entwickelt sich hier sehr viel.
Anwendungsfelder wären beispielsweise Materialentwicklung und Prozessoptimierung. Materialentwicklung dauert oft 10 bis 20 Jahre. Hier kann Beschleunigung große ökonomische Effekte bringen, z. B. bei der dynamischen Magnetisierung für Elektromotoren. Andere Beispiele finden sich in der Medizin, im Luft- und Fahrzeugbau, bei Batterien. Da werden jetzt schon Algorithmen entwickelt – und man wird einen Vorteil haben, wenn die Hardware gut genug wird.
E.ON nutzt die Vorteile des Quantencomputings zum Beispiel zur Optimierung von Grids. Das verbessert Energieeffizienz, Energiehandel und Systemplanung – idealerweise in (nahezu) Echtzeit.

Dr. Ralf Wintergerst:
Diese Beispiele liegen nah an deutscher Industrie. Die Wirtschaft muss diese Chancen nutzen und mutig sein.

Dr. Heike Riel:
Genau. Man darf nicht nur Hardware fördern, sondern auch die heutigen „Leading-Edge“-Systeme für Anwendungen nutzen. Studien zeigen: Der Markt für Anwendungen ist um den Faktor 10–100 größer als der reine Hardwaremarkt. Da darf man nicht den Anschluss verpassen.
Vor einigen Jahren bildete sich dafür QUTAC. Hier bündelt die deutsche Industrie ihre Kräfte im Bereich Quantenalgorithmen und herausfinden, für welche Anwendungen Quantencomputer besser als klassische Rechner geeignet sind. Wir haben hier Arbeitsgruppen mit Experten aus Industrie und Forschung, sie veröffentlichen Whitepaper zu Anwendungsfällen und benötigter Hardware-Performance.
Wie sich die Hardware entwickelt? IBM hat etwa eine Roadmap: Bis 2029 wollen wir einen fehlertoleranten, skalierbaren Quantenrechner bauen. Das sind nur noch wenige Jahre – Vorbereitung ist jetzt nötig, um später Quantenvorteile zu realisieren.

Dr. Ralf Wintergerst:
Wie Ihre Beispiele zeigen, verlaufen die Prozesse schnell. Wie entwickeln sich Quantencomputing und KI – nebeneinander oder miteinander?

Dr. Heike Riel:
Das ist eine sehr gute Frage und Teil der Forschung: Wie hilft Quantencomputing bei KI? Wie hilft KI beim Quantencomputing? Es wird in Symbiose gehen. KI arbeitet datengetrieben mit großen Datenmengen und erkennt Muster; Quantencomputer nutzen während des Rechnens einen exponentiell großen Rechenraum. Beides lässt sich kombinieren, um große Probleme zu lösen.  
IBM integriert KI bereits in Qiskit – zur Code-Generierung, Debugging, Schaltungs- und Algorithmus-Optimierung. Außerdem hilft KI bei Fehlermitigation: Fehler verstehen, reduzieren, herausrechnen – bis eine echte Fehlerkorrektur verfügbar ist.

Dr. Ralf Wintergerst:
Das ist unglaublich spannend. Aber kommen wir zu den Menschen, die all das umsetzen. Welche Disziplinen braucht es – und wie gewinnen wir hier Talente?

Dr. Heike Riel:
Zu Entwicklung eines Quantenrechners braucht es den gesamten Stack: Physik, Materialwissenschaft, Elektrotechnik, Informatik, Software- und Algorithmenentwicklung, Mathematik und theoretische Physik – plus die Expertise der Industrie, um relevante Probleme zu identifizieren und mit den Anwendern zusammenzuarbeiten.
Wir müssen Natur- und Ingenieurwissenschaften attraktiver machen. Mich besorgt, dass weniger Schüler Physik-Leistungskurs wählen. Das hat Folgen für unsere Wettbewerbsfähigkeit. Wir brauchen bessere Kommunikation über den Wert dieser Berufe.

Dr. Ralf Wintergerst:
Sie hatten das vorhin bereits erwähnt. Vorbilder sind wichtig – ohne sie fehlt Orientierung. Wie motivieren wir insbesondere Mädchen? Da haben wir in Deutschland noch eine deutliche Lücke.

Dr. Heike Riel:
Das Berufsbild in der Öffentlichkeit ist oft klischeehaft: der „Nerd“ à la Einstein, der verrückt ist. Zeigen wir stattdessen die Wirkung dieser Berufe: Welchen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen Ingenieur- und Naturwissenschaften?
In der Medizin gibt es schon jetzt viele Frauen. Auch in Serien gibt es viele Ärztinnen – Physikerinnen oder Ingenieurinnen sieht man selten. Das schreckt ab und verfestigt Stereotype. Viele Medizintechnologien – MRI, Ultraschall – basieren aber auf Physik und Ingenieurwesen. Die Arbeit ist ebenfalls sehr sinnstiftend. Das müssen wir verdeutlichen.
Gesellschaftlich sollte man auch aufhören, mangelnde Mathekenntnisse kokett zu thematisieren, wenn man eine Frau ist. Entweder wird einem so eingeredet, man wäre nicht gut in Mathematik oder man hat eine Entschuldigung.

Dr. Ralf Wintergerst:
Unternehmen betreiben Employer Branding. Vielleicht sollten DPG und Bitkom gemeinsam eine Kampagne entwickeln, um junge Frauen für MINT- und Querschnittsbereiche zu begeistern.

Dr. Heike Riel:
Sehr gern, da wäre ich dabei.

Dr. Ralf Wintergerst:
Zum Abschluss zwei Fragen. Erstens: Wo möchten Sie Deutschland und Europa in zehn Jahren sehen – bei Hightech-Innovation, Quantencomputing und KI?

Dr. Heike Riel:
Erfolgreich und technologisch souveräner. Mit neuen Startups und Firmen, die von KI und Quantencomputing profitieren. Mit mehr Frauen in diesen Bereichen, die ihre Fähigkeiten und Leidenschaft einbringen. International wettbewerbsfähig – auch mit wachsenden Ressourcen für Natur- und Ingenieurwissenschaften.

Dr. Ralf Wintergerst:
Schöner Nordstern. Zweitens: Was ist ihr persönlicher Nordstern für die nächsten zehn Jahre?

Dr. Heike Riel:
Kurzfristig möchte ich als künftige DPG-Präsidentin diese Themen voranbringen. Zudem wollen wir zeigen, dass Quantencomputing wirtschaftlichen Mehrwert liefert. Nach Jahrzehnten intensiver Arbeit – erst theoretisch, dann experimentell, jetzt systemisch – sind wir auf gutem Weg zum ersten fehlertoleranten Quantencomputer. Ich möchte mit meinem Team wissenschaftlich und wirtschaftlich erfolgreich sein.

Dr. Ralf Wintergerst:
Dafür wünsche ich Ihnen alles Gute. Fortschritt in diesen Bereichen dient nicht nur Ihnen, sondern uns allen. Vielen Dank für das Gespräch, wir sollten ein Follow-up einplanen.

Dr. Heike Riel:
Definitiv, es war mir eine große Freude, Herr Wintergerst.

Dr. Ralf Wintergerst:
Vielen Dank.