Wintergerst und Krauthausen vor blauem Hintergrund, mit Mikrofonen und Podcast-Titel „Wintergerst trifft Krauthausen“.
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Ralf Wintergerst trifft Raúl Krauthausen

Der Podcast „Ralf Wintergerst trifft Raúl Krauthausen“ zum Nachlesen

Dr. Ralf Wintergerst: Lieber Herr Krauthausen, schön, dass wir uns heute hier virtuell zum Podcast treffen können. Ich freue mich auf unser Gespräch.
 

Raúl Krauthausen: Ja, danke. Ich mich auch.
 

Wintergerst: Lieber Herr Krauthausen, ich muss Sie zum Anfang vielleicht ein bisschen privat fragen zu Ihren Einstellungen. Die Welt wird digitaler und im Bitkom setzen wir uns dafür ein, dass wir digitale Technologien nutzen, weil sie, wenn man sie richtig nutzt, den technischen Fortschritt kann man gut einsetzen über KI, Apps oder smarte Geräte, das Leben einfacher, effizienter machen. Was waren denn die digitalen Technologien und Möglichkeiten, die Sie zuletzt richtig beeindruckt haben?
 

Krauthausen: Uiuiui, da erwischen Sie mich aber ein bisschen auf den kalten Fuß, da habe ich mir jetzt keine Gedanken drüber gemacht. Also ich bin ja schon von Anfang an dabei und ich glaube, das, was mich zuletzt wirklich umgehauen hat, war die Künstliche Intelligenz, vor allem in Bezug auf die automatisierte Erstellung von Transkriptionen, wie gut das geworden ist und da gibt es einen, der heißt Whisper von OpenAI oder Microsoft. Das habe ich selbst mal ausprobiert, kostet irgendwie 10 Dollar oder 10 Euro, einmal runterladen, man braucht keinen Server von außen und dann macht der bessere Transkripte als die Untertitel auf YouTube. Das hat mich schon schwer beeindruckt, und wie schnell das auch inzwischen alles geht.
 

Wintergerst: In meiner Hauptaufgabe leite ich ja ein Unternehmen und wir beginnen auch damit, Protokolle zu schreiben über diese Mitschriften. Das ist immer noch ein bisschen herausfordernd, weil man wirklich prüfen muss, das sind ja auch teilweise offizielle Dokumente, dass das auch alles stimmt. Aber es geht schon ehrlich gesagt echt gut. Ich bin auch beeindruckt.
 

Krauthausen: Also es erspart einem 90 Prozent der Arbeit, würde ich sagen, aber ein bisschen menschliche Arbeit wird es immer benötigen, das war schon immer so. Mein Thema ist Barrierefreiheit, und wenn wir glauben, die Technologie nimmt uns die ganze Arbeit ab, dann lügen wir uns in die Tasche.
 

Wintergerst: Sie sind ja Inklusionsaktivist und ich habe da ein ganz beeindruckendes Chart von Ihnen gesehen, das Sie kommentiert haben, was Sie in drei Teile aufgeteilt haben. Diese waren unterschrieben mit Exklusion, Inklusion und Integration. Damit wir vielleicht alle Zuhörerinnen und Zuhörer abholen, können Sie das noch mal beschreiben? Ich fand das so treffend auch für unser Gespräch heute.
 

Krauthausen: Die Grafik jetzt visuell zu beschreiben in einem Podcast ist gar nicht so einfach, aber wenn man das Wort Integration und Inklusion googeln würde, dann würde man relativ schnell auf eine Grafik stoßen mit drei oder vier Kreisen, wo verschiedene Punkte drin oder draußen sind, die beschreiben den Unterschied zwischen Exklusion, Integration und Inklusion.

Exklusion meint, dass wir Menschen ausgrenzen, meistens Minderheiten. Integration meint, wir schließen Menschen in unseren Kreis mit ein, aber die Deutungshoheit bleibt bei der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Das heißt, die Mehrheitsgesellschaft erwartet auch Dankbarkeit von der Minderheit. Das ist das, was wir gerade erleben in Bezug auf Zuwanderung.

Und dann gibt es Inklusion, was eine Weiterentwicklung der Integration ist. Hier geht man sozialwissenschaftlich davon aus, dass es weder Mehrheiten noch Minderheiten gibt, weil wir alle so individuell sind, dass es keinen Sinn macht, da einen Kreis drum zu ziehen oder eine Gruppe zu stecken, sondern wir eigentlich im Sinne einer inklusiven Gesellschaft dafür sorgen müssen, dass jeder und jede von uns in die Lage versetzt werden kann, die eigenen Ziele und Wünsche zu erreichen und wir die Gesellschaft dahingehend umbauen müssen.
 

Wintergerst: Der Inklusionsteil war ja genau in der Mitte und stellt sozusagen das Zentrum Ihres Bildes dar. Und wenn man es jetzt mal so nimmt, ist es ja auch das Herz der Demokratie, denn wenn wir in der Demokratie Meinungsvielfalt zulassen müssen, ist natürlich Inklusion die Inkooperation dieses mittleren Kreises, der sehr bunt war, der sehr viele Meinungen gehabt hat. So ist es auch gemeint, oder? Dass das auch das Herz der Demokratie ist, was Sie da ausgedrückt haben.
 

Krauthausen: Ja, mir ist das so ein bisschen zu viel magisches Denken. Das sind so große, blumige Worte, die für mich auch schnell leer werden. Also Inklusion ist erst mal nichts anderes als das Aushalten von Vielfalt und wenn unsere Gesellschaft das nicht aushalten will oder kann, dann sind wir halt auch keine inklusive Gesellschaft.

Es ist nicht möglich zu sagen, wir sind eine inklusive Gesellschaft, aber die und die wollen wir nicht. Deswegen ist es immer auch eine Auseinandersetzung mit Kompromissen, mit Streit, mit ganz viel Lernen, und auch Kompetenzen zu entwickeln, wie wir überhaupt Meinungsverschiedenheiten aushandeln und ausdiskutieren. Aber einfach zu sagen, Inklusion ist Demokratie, das ist mir zu einfach. Auch in unserem Land bekommen Frauen nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie Männer, obwohl wir schon seit über 70 Jahren in Demokratie sind.
 

Wintergerst: Ja, da muss ich selbst drüber nachdenken, Herr Krauthausen. Ich leite ein Unternehmen und ich habe immer mit diesen Quoten zu tun und ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll. Wenn es meine persönliche Einstellung ist, dass ich gerne Teams haben möchte, die Vielfalt in Inhalt und Meinung darstellen, weil ich glaube, dass es gut fürs Unternehmen ist, werde ich ja immer Lösungen finden. Aber wenn ich da keine Lust drauf habe, dann mache ich es einfach nicht. Und ich glaube, die Quote als solche hilft uns nicht weiter, sondern vielmehr die Einstellung. Damit bin ich schon ein bisschen bei der Demokratie.
 

Krauthausen: Ja, aber das ist auch magisches Denken. Weil wenn wir keine Quoten haben, dann bringen wir diejenigen auch nicht dazu, die keinen Bock haben.
 

Wintergerst: Ja, das stimmt.
 

Krauthausen: Also Friedrich Merz ist ein gutes Beispiel, er hat es irgendwie nicht hinbekommen, in seinem Kabinett gleichberechtigt Frauen zu installieren und da kommen wir mit Freiwilligkeit einfach nicht weiter, trotz Angela Merkel.
 

Wintergerst: Also glauben Sie, dass Quoten sein müssen, damit wir einen Schritt vorwärts machen?
 

Krauthausen: Ja, und wenn dann die ewigen Nörgler kommen, meistens Männer, die sagen, ja, aber wir wollen ja nicht nach Quote, sondern wir wollen ja nach Kompetenz. Wenn wir wirklich feststellen, dass wir durch die Quote keine Kompetenz oben haben, dann müssen wir kompetent machen. Dann müssen wir die Leute fortbilden, ihnen die Möglichkeiten geben, auch ihre Karrieren zu entwickeln. Das eine schließt das andere nicht aus.
 

Wintergerst: Also zumindest kann sich Deutschland was von anderen Ländern abschauen, oder? Ich glaube, ein paar Länder kriegen das einfach besser und vielleicht geländegängiger hin, wobei da jedes Land seine Themen hat.
 

Krauthausen: Jedes Land hat seine Herausforderungen, natürlich. Es steht Deutschland nicht gut, sich weltweit als Moralpolizei aufzuführen, aber im eigenen Garten nicht zu fegen.
 

Wintergerst: Das geht nicht.
 

Krauthausen: Das geht einfach nicht, genau.
 

Wintergerst: Lassen Sie uns mal einen Bogen zum Digitalen machen, weil viele Zuhörerinnen und Zuhörer sind ja vom Bitkom. Digitale Tools können heute schon viele Dinge ermöglichen. Wie sehen Sie das, können digitale Tools Barrieren abbauen und Leuten eine Teilhabe ermöglichen? Ist die digitale Welt schon zugänglich genug?
 

Krauthausen: Ich erinnere mich noch gut an die Debatten rund um die Corona-Pandemie. Homeoffice und so weiter, in wie wir Deutschland in kurzer Zeit digitalisiert bekommen haben. Plötzlich waren Videokonferenzen und so weiter möglich, die früher unmöglich schienen. Und das, was früher behinderte Menschen gefordert haben, etwa die Möglichkeit, auf Homeoffice zurückzugreifen, wurde immer abgeschmettert von wegen, ja, das ist nicht gut für das Teambuilding und so weiter, oder wir haben die Technologie dafür nicht. Es wäre schon besser, wenn man sich vor Ort trifft. Auf einmal war es möglich und zwar für alle. Das heißt, wir sehen schon, dass, wenn man behinderten Menschen damals zugehört und geglaubt hätte, uns die Dinge auch nicht so überrascht hätten.

Allerdings birgt das auch neue Gefahren. Also, wenn ich mich als Arbeitnehmerin bei einem Unternehmen bewerbe und das Büro ist nicht barrierefrei, und man mich an den digitalen Katzentisch verweist und sagt, ja, aber Sie können ja vom Homeoffice aus mitmachen – dann ist das eine neue Form der Ausgrenzung.

Das heißt, Digitalisierung als solche ist immer eine Möglichkeit der Teilhabe, gar keine Frage, und auch der Teilgabe. Aber wie jede Technologie kann sie auch zum Negativen eingesetzt werden. Gerade beim Bereich Künstliche Intelligenz hatten wir das kurz angeschnitten. Von was für Modellen gehen wir aus, was für Stereotype werden bedient? Mit welchen Daten wurden die gefüttert? Auch da entstehen wieder neue Vorurteile und Diskriminierungen. Da muss man genau hinschauen. Ich bin kein Freund von einfachen Wahrheiten. Die Digitalisierung erleichtert uns die Barrierefreiheit 100 Prozent, das ist nicht der Fall.
 

Wintergerst: Wo sehen Sie die Chancen der KI? Die Gefahren sehen wir alle. Aber wo sind Chancen?
 

Krauthausen: KI wird uns sehr stark dabei helfen, Barrierefreiheit herzustellen im Sinne von Übersetzung, im Sinne von einfacher Sprache, im Sinne von Untertitelung. Wo es schwierig werden wird, ist Bildgenerierung. Wo es schwierig werden wird, ist Gebärdensprache. Da gibt es zwar sehr viele Innovationen, und jede Hochschule hat irgendwie was zu dem Thema. Allerdings muss man sich dafür auch ein bisschen mit Gebärdensprache auskennen. Das ist keine Eins-zu-eins-Übersetzung wie Deutsch-Englisch, sondern das ist schon ein bisschen komplexer, und da wird die KI uns in den nächsten Jahren erstmal nicht wirklich weiterhelfen. Und wer das glaubt und behauptet, der hat sich mit dem Thema nicht genug auseinandergesetzt.
 

Wintergerst: Jetzt haben wir ja auch eine Regulierungsinitiative, die aus der Europäischen Union kommt, die auch in Deutschland stattfindet, das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Wird das die digitale Teilhabe aus Ihrer Sicht denn verbessern? Trifft das Gesetz den Punkt?
 

Krauthausen: Also das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz kommt, wie Sie gesagt haben, von der EU. Da gibt es den European Accessibility Act, der wiederum inspiriert ist von dem Americans with Disabilities Act in den USA aus den 90ern.

In Deutschland ist es ein relativ stumpfes Schwert, wenn man das überträgt, weil es meint nur digitale Produkte, also Webseiten und Apps und Automaten. Aber es meint zum Beispiel nicht Gebäude, es meint einfach alles, was haptisch ist, nicht. Das heißt auch die Shampoo-Flasche bei Rossmann werde ich als blinder Mensch nach wie vor nicht erkennen können, trotz des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes. Wir verpflichten jetzt momentan, Webseiten, Apps und Automaten barrierefrei zu sein, ab Ende Juni. Und wer das nicht tut in ausreichendem Maße, der kann belangt werden.

Ich finde, das ist eine richtige Maßnahme, weil wir auch hier merken, ähnlich wie bei der Quote, mit Freiwilligkeit hat das nicht geklappt. Es gab lange genug Initiativen und Versuche. Es gibt Standards, die alle schon entwickelt wurden. Aber wenn da Agenturen und Firmen immer noch einen schmalen Fuß machen, dann muss man das irgendwann regulieren. Das ist ähnlich wie bei CO2-Reduktion oder Umweltschutz.
 

Wintergerst: Sie haben eine klare Meinung, das finde ich klasse. Der bundesweite Digitaltag, der ruft ja in Freiwilligkeit zum Thema digitale Demokratie auf. Sind das denn digitale Beteiligungsformate, die zählen für Sie, die auch einen Effekt haben können? Weil Aufmerksamkeit muss man trotzdem gewinnen für das Thema, damit es Gehör findet.
 

Krauthausen: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es schon sinnvoll ist, das zumindest als Gesprächsanlass zu benutzen. Ich habe allerdings manchmal das Gefühl, dass wir in Deutschland Digitalisierung immer noch wie Neuland sehen und immer noch darüber diskutieren, als wäre das jetzt die große Neuheit. Das ist es einfach schon lange nicht mehr. Es ist einfach Alltag in so vieler Leute Leben, die digitalen Produkten, dass ein Digitaltag schon mehr mit Inhalt gefüllt werden müsste, thematisch und so weiter.

Aber sie brauchen sich ja nur mal den Spaß machen als gesetzlich versicherter Patient, überhaupt einen Arzttermin zu finden bei Doctolib. Das ist trotz Digitalisierung nicht so einfach, da überhaupt freie Plätze zu finden. Sie brauchen nur mal versuchen, bei Eventim als rollstuhlfahrender Mensch ein Ticket für ein Konzert zu buchen. Das geht nicht. Das ist nicht möglich, weil die Datenstandards nicht hinterlegt sind, welche Rollstuhlplätze es in dem Konzertsaal zu dem Event gibt. Und jeder schiebt die Verantwortung von A nach B und niemand will zuständig sein. Der Gelackmeierte ist dann der Mensch mit Behinderung, der 100 kostenpflichtige Hotlines anrufen muss, um endlich an sein Ticket zu kommen. Und eigentlich brauchen Sie nur mal ausprobieren, als rollstuhlfahrender Mensch ein Flugticket zu buchen. Wie oft Sie da Angaben machen müssen, wie schwer und wie groß Ihr Rollstuhl ist, anstatt es einmal irgendwo anzugeben. Da fragt man sich wirklich, wo geht diese ganze Digitalisierung hin, wenn die Daten nicht miteinander ausgetauscht werden.
 

Wintergerst: Jetzt haben wir in Deutschland seit ganz kurzem, Sie hatten ja vorhin schon die Bundesregierung angesprochen, ein Digitalministerium, ein Ministerium für Staatsmodernisierung. Hätten Sie da eine Erwartungshaltung oder sind Sie da auch eher bei den einfachen Themen, wie Sie es vorhin gesagt haben?
 

Krauthausen: Ich weiß nicht, ob Sie auch auf der Re:publica waren, aber da wurden ja große Hoffnungen auch an den Digitalminister gestellt, weil er endlich ein Ministerium hat, das auch Kompetenzen und Mandate bekommen hat. Und das ist nicht einfach wie damals bei Dorothee Bär ein Büro ohne Computer, also nur mit Tablets, wo man jetzt auch wirklich versucht, das in fast alle Gesetzgebungen mitzudenken, die Digitalisierung.

Ich glaube, das muss man ernst nehmen und nicht nur aus der Wirtschaft denken. Man muss es auch aus der Perspektive der Zivilgesellschaft denken. Und wenn wir jetzt nur noch in Big Data und Clouds und KI denken, aber nicht die Frage stellen, wie können wir das Leben der Bürgerinnen vereinfachen, dann wird das nichts, dann wird es nur was für die Großen.

Das ist das, was mich in der aktuellen Regierung am meisten nervt. Wenn wir von Bürokratieabbau sprechen, dann meinen wir meistens den kleinen Mann. Dann meinen wir meistens, dass er oder sie dann eben noch weniger Möglichkeiten hat, des Widerspruchs, dass er oder sie es noch schwieriger hat, irgendwelche Anträge zu stellen, noch schwieriger hat, Termine zu bekommen. Aber wir meinen sehr, sehr selten die eindeutige Regulierung, wenn es um Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz geht.

Es gibt eine Menge, die man optimieren könnte, wenn Sie mich fragen, aber ich werde leider nicht immer gefragt.
 

Wintergerst: Ich frage Sie jetzt. Was wären denn die Projekte oder die Vorhaben, die Sie vorschlagen oder die Sie sich wünschen würden?
 

Krauthausen: Ich kann Ihnen mal was erzählen aus meinem ganz privaten Leben. Ich bin ein Mensch mit Behinderung. Ich bekomme Assistenz. Jeden Morgen und jeden Abend helfen mir Menschen in meinem Alltag. Und bis letzte Woche musste ich jedes Jahr neu nachweisen, dass ich immer noch behindert bin. Es gab keine Möglichkeit, im Datenbankfeld des Sozialamtes ein Häkchen zu setzen, dass ich mein Leben lang behindert sein werde und dass es nicht besser wird – und dass sie froh sein können, wenn ich mich nicht melde. Weil wenn ich mich melde, dann ist es wahrscheinlich schlimmer geworden.

Das heißt, da wurde jedes Jahr eine neue Bürokratie in Gang gesetzt, wo ich jedes Mal meine Kontoauszüge einschicken musste, jedes Mal ein Gutachten gemacht wurde, jedes Mal mehrere Leute zur Besichtigung kamen, ob ich immer noch Assistenz benötige und so weiter. Und das ist richtig Aufwand. Und das machen die mit 100.000 Menschen. Wo man sich fragt, es gibt einfach Menschen, deren Zustand sich nicht ändern wird, dass man das auch einfach abhaken könnte. Aber da macht man es nicht, weil man immer glaubt, man könnte noch Geld sparen. Und das ist tatsächlich, wo ich als erstes ansetzen würde, wenn es um Bürokratieabbau geht.
 

Wintergerst: Wow, da habe ich noch nie drüber nachgedacht. Erstmal vielen Dank für den Einblick in Ihr Leben. Aber das verdeutlicht natürlich auch plastisch, wo man wirklich Geld verschwendet und wie man es anders einsetzen kann.
 

Krauthausen: Und die Gelder, die eingesetzt werden zur Prüfung, entsprechen niemals den Geldern, die Sie finden, wenn Sie was sparen wollen.
 

Wintergerst: Wenn wir auf die andere Seite gehen, von der Politik weg zu den Unternehmen. Wir haben mittlerweile riesengroße Tech-Konzerne. Wo müssten die ansetzen, damit es inklusiver und auch verantwortlicher wird, wenn es zum Schluss um den Menschen geht?
 

Krauthausen: Gerade wenn wir über den Bereich Künstliche Intelligenz reden, müssen wir ganz genau schauen, mit welchen Daten füttern wir die KI? Sind es Daten, die der weiße, nichtbehinderte, heterosexuelle Mann geliefert hat? Oder sind es eben auch Daten aus der Community der Menschen, die marginalisiert sind? Von Frauen beispielsweise, von Menschen mit Behinderung, von People of Color.

Versuchen Sie mal, über einen Bildgenerator einen authentischen Rollstuhlfahrer darzustellen und achten Sie darauf, was für Rollstühle gezeigt werden. Es sind immer diese Krankenhaus-hässlichen Rollstühle, die sie, wenn Sie selbst aber auf einen Rollstuhl angewiesen sind, als erstes loswerden wollen und lieber einen richtigen Rollstuhl hätten. So entstehen Vorurteile, wenn man die immer weiter reproduziert.

Ansonsten denke ich aber auch, wir müssen über Hass reden, über Hass im Netz. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Das wird uns KI nicht lösen. Aber wir sehen ja gerade bei Meta und Co., wie sie eigentlich nur noch die KI zur Kommentarmoderation einsetzen und die ganzen Fact Checker immer weiter wegstreichen und plötzlich mit Woke Culture argumentieren. Das ist brandgefährlich, damit helfen wir wirklich nur einer Gruppe – und zwar den Rechten.
 

Wintergerst: Ja, das ist eine sehr bedenkliche Entwicklung, wenn man weltweit sieht, wo die einzelnen Lager hingehen und was sie fordern. Ist in dem Kontext auch Bildung eine Hilfestellung für Chancengleichheit? Also wenn wir das Thema vielleicht nochmal auf unsere jungen Menschen richten, die die Zukunft noch vor sich haben.
 

Krauthausen: Ja, das geht für mich auch ein bisschen in diese Richtung magisches Denken. Wenn wir die ganze Verantwortung immer nur auf die Zivilgesellschaft auslagern, ja, ihr seid halt nicht gebildet genug, um die KI zu interpretieren, dann nehmen wir wieder die Perspektive weg von der Verantwortung der Großen. Ich gehe mal davon aus, dass Mark Zuckerberg, Elon Musk und Co. genug Bildung genossen haben, um auch gute Dinge zu machen. Das immer auf das Bildungssystem auszulagern und zu sagen, ja Medienkompetenz müssen wir unterrichten und so weiter – das wird das Problem lindern, aber nicht lösen. Wir brauchen Regulierung.

Stellen Sie sich mal vor, Gebäude hätten keinen Brandschutz. Man würde immer nur an Freiwilligkeit appellieren. Und wir würden jedem Menschen zeigen, wie man sich rechtzeitig evakuiert. Ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir in Gebäuden Brandschutz haben und dass das verpflichtend ist und nicht freiwillig. Trotzdem gibt es in beide Richtungen auch Fortbildungen, wie man sich evakuiert. Aber es darf nicht nur eine Seite die Verantwortung tragen.

Vor allem müssen Politik, Justiz, Staatsanwaltschaften und Polizei in die Lage versetzt werden, es mit den Großen aufzunehmen. Also ich habe vor einigen Jahren eine Morddrohung bekommen, über Twitter. Ich habe Anzeige erstattet und finde mich in einer Polizeidienststelle einem Polizisten gegenüber, der das in eine Schreibmaschine schreibt. Wo ich denke, ich kann Ihnen jetzt die IP-Adresse nennen, aber ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Am Ende ging es an die Staatsanwaltschaft, da wurde es ein bisschen ernster genommen. Dann hieß es, halten Sie sich fest: Twitter hat angeboten, dass wir Ihnen den Nachweis schicken. Allerdings können wir nicht gewährleisten, dass die Übertragung zu Twitter auf einer sicheren Leitung ist. Deswegen stellen wir das Verfahren ein. Da dachte ich, wenn die Staatsanwaltschaft dazu nicht in der Lage ist, dann weiß ich auch nicht.
 

Wintergerst: Das Thema Brandschutz ist natürlich sehr eindringlich. Aber ich habe jetzt noch zwei junge Töchter, zehn und zwölf. Wie helfe ich denen digital umzugehen? Ich habe ja eine Aufgabe als Vater, ich leite nicht nur ein Unternehmen oder bin Verbandspräsident. Wie können wir dahin kommen, dass wir mithelfen, unsere jungen Menschen im Kant’schen Sinne zur gedanklichen Unabhängigkeit erziehen? Hilft da noch was, kann digital dabei helfen? Oder ist der Zug da schon abgefahren?
 

Krauthausen: Natürlich kann digital dabei helfen. Es gibt großartige Beispiele. Ich empfehle nur den Netzlehrer Bob Blume, der sich sehr viel mit diesem Thema auseinandersetzt – vielleicht auch ein guter Gesprächspartner für Ihren Podcast. Ich bin jetzt kein Pädagoge, aber ich erlebe zehn- und zwölfjährige Kinder schon als intelligent und clever genug, um zu erkennen, wann etwas gefährlich sein kann. Nicht, weil etwas gefährlich sein kann, ist es auch gefährlich. Und nicht, weil etwas harmlos aussieht, ist es ungefährlich. Und da kann man Kindern auch beibringen, nicht alles, was im Internet steht, ist wahr.
 

Wintergerst: Ich zahne ehrlich gesagt selbst noch dran, weil ich sehe, wie meine jungen Töchter da stets am Smartphone hängen.
 

Krauthausen: Sie sind ja auch am Smartphone. Sie sind Vorstand von Bitkom. Sie müssten auch die ganze Zeit am Smartphone hängen.
 

Wintergerst: Also ich bin sehr diszipliniert. In Meetings benutze ich keine Smartphones. Ich höre den Leuten zu. Ich finde, das ist meine Aufgabe. Und in manchen Meetings müssen die Leute ihre Telefone abgeben, damit wir reden können.
 

Krauthausen: Gut, das verstehe ich auch, aber wir sind ja nicht nur in Meetings. Sind Sie auf TikTok, Instagram, BeReal?
 

Wintergerst: Nein.
 

Krauthausen: Vielleicht ist das ein erster Schritt, wenn Sie mit Ihren Kindern in den Dialog wollen.
 

Wintergerst: Den Dialog habe ich so ziemlich jeden Tag.
 

Krauthausen: Aber wissen Sie, was mich wirklich nervt? Wenn wir die FAZ aufschlagen oder die Süddeutsche, meinetwegen die Zeit, dann gibt es oft sehr viele, sehr laute, meinungsstarke Artikel, wo Plattformen wie Instagram und TikTok verteufelt werden. Als die asiatische Datenkrake, die unsere Daten auslesen will und keine Ahnung was.

Da findet auch so viel Kultur statt. Und da finden so viele Memes statt und so viel Austausch und so viel Wissensvermittlung auch zur guten Sache. Gerade Öffentlich-Rechtliche machen gute Inhalte. Es gibt super viele private TikTokerInnen, die Inhalte produzieren, die auch ihre Kinder wahrscheinlich kennen. Und sich damit mal zu befassen und sich darüber zu unterhalten und nicht gleich zu werten und zu sagen, pass auf, was du im Internet sagst. Es ist nicht alles OnlyFans. Was ich sagen will, das Internet ist ein Spektrum. Wir müssen einfach lernen, darin zu segeln.
 

Wintergerst: Darf ich trotzdem noch mal zurückkommen zu der Frage nach guter, digitaler und auch barrierefreier Bildung? Wie sieht die ihrer Ansicht nach aus?
 

Krauthausen: Gerade TikTok ist ein gutes Beispiel, wie viele Videos inzwischen Untertitel haben, einfach, weil es automatisiert gut geht, weil man es niedrigschwellig korrigieren und anpassen kann, weil Untertitel inzwischen auch gelernt sind. Auch hörenden Menschen das Leben erleichtern, wenn sie in der U-Bahn sitzen und keine Kopfhörer dabeihaben. Sodass das auch zu einem Kulturgut geworden ist und inzwischen auch eine eigene Kunstform geworden ist. Das heißt, diese großen Plattformen helfen uns auch dabei, Barrierefreiheitsstandards zu etablieren und die Notwendigkeit deutlich zu machen.

Vor allem, das ist für mich ein sehr großer Spaß, wenn wir von Menschen mit Behinderung reden, dann reden wir manchmal über Menschen, die vielleicht nicht so gut lesen und schreiben können, zum Beispiel für Menschen mit Trisomie 21 oder Down-Syndrom. Für die ist TikTok eine super Plattform. Die können sich einfach ohne Text selbst ausdrücken, von Tanz bis hin zu Sprache, Kunst, Schauspielerei, Musik. Es gibt da großartige Inhalte, von denen auch nichtbehinderte Menschen profitieren.
 

Wintergerst: Sie sprechen das Spektrum in beide Richtungen an. Wenn wir jetzt zum Abschluss für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer betrachten, wenn wir alles richtig machen die nächsten Jahre, wie sieht die Welt in fünf oder zehn Jahren aus, wenn alles gut läuft? Was hätten wir erreicht?
 

Krauthausen: Ich würde es begrüßen, wenn sich Europa vielleicht als die gute Alternative zum bösen Internet in den USA entwickeln kann, wo hier Großkonzerne in die Schranken gewiesen werden, reguliert werden, wo wir uns ein Stück sicherer fühlen können, als einfach alles den Big Five zu überlassen, weil die sich in der Vergangenheit auch nicht berühmt gemacht haben mit ihren Sicherheitsstandards.
 

Wintergerst: Insgesamt, Herr Krauthausen, würde ich sagen, dass wir alle Mensch bleiben, oder? Und dass wir uns gut miteinander unterhalten können, gut kommunizieren können, als Europa, aber auch mit der Welt.
 

Krauthausen: Das geht für mich auch so ein bisschen in die Richtung magisches Denken, weil wir beide als weiße Männer erleben weniger Diskriminierung als Frauen oder People of Color. Das ist einfach wichtig, dass wir nicht von uns ausgehen. Also alles dem Dialog zu überlassen, alles diskutierbar zu machen, führt dazu, dass wir die AfD im Fernsehen sehen, die bei weitem nicht dem entsprechen, was sie für Sendefläche bekommen. Dinge werden plötzlich sagbar. Und da ist es wirklich wichtig, auch irgendwann mal wieder runterzukochen.
 

Wintergerst: Also, ich würde das jetzt mal so stehen lassen, Herr Krauthausen. Ich glaube, das ist ein gutes Abschlusswort.
 

Krauthausen: Ich merke das, Sie bleiben diplomatisch zurückhaltend.
 

Wintergerst: Ja, mein Punkt ist ja heute, Sie zu interviewen, nicht so viel selbst zu sprechen. Sie stehen im Mittelpunkt.
 

Krauthausen: Aber ich habe zwei Rückfragen versucht zu stellen und Sie weichen aus.
 

Wintergerst: Ich weiche aus, ja, aber Sie stehen im Mittelpunkt, nicht ich. Deswegen würde ich Sie auch gerne im Mittelpunkt lassen. Aber ich mag Ihren kritischen Blick und vor allem nehme ich mit, dass man nicht zu sehr auf die globalen Wahrheiten geht, sondern auf das, was auch wirklich machbar ist und was Realität ist und dass wir ein Spektrum haben, in dem wir uns zurechtfinden müssen und dass wir auch aushalten müssen. Ich glaube, dass aushalten müssen ist etwas, was wir noch etwas mehr lernen müssen.
 

Krauthausen: Ja, aber aushalten, verstehen Sie mich da wirklich nicht falsch. Aushalten bedeutet nicht, dass wir Hass aushalten. Aushalten bedeutet nicht, dass wir die Propaganda der Rechten, der Nazis bei Maischberger aushalten. Sondern Aushalten bedeutet, dass es niemandem von uns zusteht, zu sagen, du darfst hier nicht sein. Und das gilt auch für die Rechten, vor allem für die Rechten.
 

Wintergerst: Da würde ich Ihnen jetzt eindeutig zustimmen. Da würde ich mich nicht zurückhalten. Das habe ich auch schon öfter klar gemacht, dass eine rechte Politik Deutschland nicht weiterhelfen wird, Deutschland nicht zu einem besseren Land macht.
 

Krauthausen: Gerade beim Fachkräftemangel. Deutschland ist ein Zuwanderungsland, will es aber nicht sein. Da lügen wir uns in die eigene Tasche.
 

Wintergerst: Ich glaube, viele wollen das trotzdem. Also ich stehe zumindest dafür, dass wir hier Fachkräfte haben, die aus anderen Ländern kommen, weil wir sie auch brauchen.
 

Krauthausen: Sagen Sie das Herrn Merz und Co.
 

Wintergerst: Das werde ich tun. Lieber Herr Krauthausen, ich bedanke mich ganz, ganz herzlich für unser Gespräch, für Ihre Position, für den Austausch, bei dem heute Sie im Mittelpunkt gestanden haben. Vielen herzlichen Dank.
 

Krauthausen: Gern.
 

Wintergerst: Danke schön.